Die im Frühjahr 2021 eingerichtete Kindeswohlkommission unter der Leitung von Irmgard Griss, der früheren Präsidentin des Obersten Gerichtshofs, lieferte im Juli 2021 ihren Abschlussbericht. Die fünfköpfige, interdisziplinär zusammengesetzte unabhängige Kommission war vom Justizministerium eingesetzt worden und hatte die Aufgabe, Bereich des Asyl- und Bleiberechtsverfahren die rechtlichen Rahmenbedingungen für Kinder und ihre Anwendungspraxis zu überprüfen und auch einen europaweiten Vergleich herzustellen. Die Kommission sollte Kriterien zur Sicherstellung des Kindeswohles entwickeln und entsprechende Empfehlungen abgeben.
In ihrem 450-Seiten dicken Abschlussbericht kritisiert die Kommission, dass die Kinderrechte und das Kindeswohl in der Praxis der österreichischen Asyl- und Bleiberechtsverfahren nur unzureichend gewürdigt werde. Die Kinderrechte seien in Österreich durch internationale Übereinkommen, europäisches Recht und nationales Verfassungsrecht „umfassend abgesichert“, so die Vorsitzende der Kommission, im Vollzug der Gesetze sei die Lage aber „unbefriedigend“. So würden Lücken in den ausführenden Gesetzen und der Verfahrensgestaltung dazu führen, dass die bestmögliche Entwicklung von Kindern sowie die Wahrung der Interessen von Kindern nicht immer gewährleistet ist. So fehlen beispielsweise im österreichischen Asyl- und Fremdenrecht klare Vorgaben für die Kindeswohlprüfung; damit sei nicht sichergestellt, dass diese strukturiert erfolgt und Kriterien miteinbezieht, die die besondere Situation geflüchteter Kinder berücksichtigen. Ähnliche Fälle, so die Vorsitzende Griss bei der Präsentation des Berichts, würden unterschiedlich bewertet, worin mache eine „Lotterie“ sehen, je nachdem, auf welche Richterin oder welchen Richter man trifft.
Die Kindeswohlkommission kritisiert außerdem die Situation der Obsorge unbegleiteter Minderjähriger sowie die Unterbringung und Betreuung von Kindern im Rahmen laufender Asylverfahren; eine kindgerechte Betreuung und Versorgung sei in der Vollzugspraxis nicht mit Sicherheit gewährleistet.
Der Bericht der Kommission schließt mit einer langen Liste an Empfehlungen, um die Situation von Kindern im Bereich der Asyl- und Bleiberechtsverfahren zu verbessern und die Einhaltung der Kinderrechte in der Praxis zu gewährleisten. Die Kommission empfiehlt unter anderem eine umfassende und strukturierte Kindeswohlprüfung bei allen Entscheidungen im Rahmen des Asyl- und Fremdenrechts und insbesondere bei der Prüfung der Zulässigkeit einer Abschiebung und der Entscheidung über ein Aufenthaltsrecht aus berücksichtigungswürdigen Gründen. Verfahren sollten zudem besonders geschultem Referent:innen und Richter:innen zugeteilt werden, die qualifiziert sind, auf die besonderen Bedürfnisse von Kindern einzugehen und die Kinder qualitätsvoll an kindgerechten Verfahren zu beteiligen.
Die Kindeswohlkommission war zu Beginn des Jahres 2021 eingerichtet worden, nachdem im Jänner drei Schülerinnen nach Georgien und Armenien abgeschoben worden waren. Die Mädchen waren in Österreich aufgewachsen und galten als „gut integriert“, die Abschiebungen wurden als „unmenschlich“ und „unverhältnismäßig“ kritisiert und wurden unter starker Polizeipräsenz früh morgens gegen den Widerstand zahlreicher Protestierender durchgesetzt.
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